Wenn ich in Gruppen frage, was sie online herausfordert, ist unter den Top 3 definitiv die Antwort: „Ich habe kein Gefühl für die Gruppe.“
Im folgenden Beitrag erläutere ich wie ich online Gruppen lese und Gruppengefühle erzeuge in drei Schritten:
Zum Abschluss verrate ich meine Lieblingsmethoden, die mehrere der Tipps und Schritte in sich vereinigen.
Schritt 1: So gelingt das Lesen leichter!
- Sei gut vorbereitet, so dass du präsent sein kannst, schau hin.
- Bitte darum, die Kameras anzuschalten und richte dein Videokonferenz-Tool so ein, dass du möglichst viele Teilnehmende sehen kannst. Und zwar idealerweise auch, während du eine Präsentation teilst.
- Bitte darum, dass die Teilnehmenden Multitasking unterlassen und lade sie ein, ganz im hier und jetzt zu sein.
- Bitte um Feedback in die Kameras, via Reaktionsbuttons oder Chat. Frag nach, wenn du unsicher bist.
- Lass Menschen sprechen, frage dazu in den Raum. Frage bei schriftlichen Beiträgen nach oder nimm, wenn du die Gruppe gut kennst, auch Menschen direkt dran, die gerade nachdenklich, kritisch etc. wirken.
- Nutze Runden und Blitzlichter.
- Versuche in deiner Wahrnehmung alle Rückmeldungen zu kombinieren, also Kamera plus schriftliches plus Audio-Beiträge. All das zusammen zeigt dir, ob und wie die Gruppe gerade präsent ist.
- Moderiere zu zweit und nutze die Zeit, in der du nicht sprichst, um bewusst hinzuschauen und zu lesen.
- Übe das Lesen. Das geht auch als Teilnehmende*r in den Workshops anderer.
Schritt 2: Mut zum Spiegeln:
Ich spiegele als Moderation auf zwei Ebenen.
Auf der ersten Ebene spiegele ich Aktionen und Reaktionen, z.B. „Ich sehe, dass viele Menschen im Padlet schreiben.“ „Ich sehe Nicken.“ Dabei kann ich eigentlich kaum irren, weil es eindeutig beobachtbar ist. Es zeigt der Gruppe, dass ich sehe, was sie tut. Das ist besonders bei geteiltem Bildschirm oder für Menschen am Handy oder Telefon wichtig, da sie nur wenige oder keine anderen Teilnehmenden sehen.
Auf der zweiten Ebene versuche ich Stimmungen und Emotionen zu spiegeln. Da es sich dabei immer um Interpretationen handelt, kann ich irren, aber meist ist ein Teil auf jeden Fall wahr – sonst rebelliert die Gruppe auch oft hilfreich – : Z.B. „Ich schaue gerade in nachdenkliche Gesichter“ „Ich habe das Gefühl, dass wir gerade eine Pause brauchen“. Einige Kolleg*innen von mir nutzen sehr gekonnt Wetter-Metaphern, z.B. „Es ist gerade etwas neblig, oder?“ oder beim Wiederkommen lächelnder Teilnehmender aus Breakouts: „In euren Kleingruppen hat wohl die Sonne geschienen“.
Ich versuche so oft wie möglich Danke zu sagen, wenn Menschen sich besonders in der Kamera mit Gestik und Mimik oder via Reaktionsbuttons aktiv beteiligen. So unterstütze und wertschätze ich genau dieses aktive Verhalten besonders, da es mir das Lesen so sehr erleichtert.
Schritt 3: Der Gruppe Selbstwahrnehmung und Gruppengefühl ermöglichen
Das aktive Spiegeln ist bereits ein erster Schritt zur Selbstwahrnehmung der Gruppe von sich selbst als Gruppe.
Wichtig für die gemeinsame Wahrnehmung ist zudem, dass die Menschen einander sehen können. Dazu hilft es, die Präsentation auszublenden und alle zu bitten in den Gallery-Modus zu wechseln. Runden und Blitzlichter sind bei Gruppengrößen bis ca. 15 Personen wunderbare Methoden, damit jede*r jede*n wahrnehmen kann. Ebenso Energizer oder kleine Tricks, die Achtsamkeit füreinander erfordern, z.B. das Zählen bis zur Anzahl der Gruppengröße oder den imaginären Redestift selber bei Runden weiterzugeben. (Denn dann muss ich ja aufpassen, wer noch nicht gesprochen hat und kann mit meinem Beitrag jederzeit drankommen.)
Eine weitere wichtige Dimension für das Gruppenerleben ist es Gemeinsamkeiten zu finden. Sei es in den Fragen, Hintergründen, Motivationen für den Workshop oder dem Teilen aktueller Probleme und Herausforderungen. Das kann in Runden oder in großen Gruppen via Chat, in Umfragen, auf Whiteboards, in Positionsbarometern oder im Kleingruppen-Austausch gelingen.
Bei emphatischen Gruppen ist es sehr wirkungsvoll, die Gruppe aufzufordern, sich selber zu lesen. Anstatt meine Vermutungen zu äußern, was los ist, bitte ich die Gruppe zu schauen, was die Teilnehmenden gerade sehen, wahrnehmen und vermuten: bei sich und bei den anderen. Die Stimmung in der Gruppe wird bei so einer Übung konzentrierter, achtsamer und spürbar wärmer.
Meine 3 Lieblings-Kombi-Tricks
1) Checkin mit Willkommensgesten
Bei Gruppen bis ca. 15 Personen nehme ich mir gern die Zeit für eine Checkin-Runde, bei der jede Person kurz etwas zu sich sagt und eine Willkommensgeste teilt, die die anderen mitmachen. Dann gibt er*sie weiter. Diese Methode sichert gleich mehrere Aspekte des oben genannten:
- Die Teilnehmenden haben einen Grund ihre Kamera anzuschalten. Außerdem schafft es das Mini-Erlebnis, dass die Kamera relevant ist und dass sie gesehen werden.
- Weil die Teilnehmenden die Hände zum Spiegeln der Gesten benutzen müssen, ist das zu Ende schreiben von E-Mails parallel unmöglich.
- Die Gruppe schaut sich gegenseitig aktiv an und spiegelt einander.
- Idealerweise gibt es das ein oder andere Lächeln oder Lachen für alle.
- Die Gruppe meistert die „Herausforderung„, dass am Ende alle dran waren.
Auch wenn ich die Methode nicht benutze, frage ich sehr oft nach Stimmungen, Verständnis etc. und bitte um Daumen hoch oder runter in die Kamera. Auch hier müssen die Hände von anderen Programmen genommen werden und zugleich erhalte ich sehr schnell ein Bild und die Gruppe ebenso.
2) Kamera zuhalten
Bei größeren Gruppen und kurzen Workshops dauert eine Checkin-Runde meist zu lange. Alternativ spiele ich deshalb das Kamera-Zuhalten-Spiel. Dazu teile ich Fragen oder lade die Gruppe ein, Fragen zu teilen, die auf sie zutreffen oder nicht zutreffen können. Das kann …
- die Präferenz für Tee oder Kaffee sein,
- die Kontinente auf denen sie leben,
- die Art der Organisation oder Funktion in der sie tätig sind.
Oder ich kann das Spiel nutzen, um schon einen Bezug zum Thema herzustellen, z.B.
- Wer moderiert regelmäßig Workshops?
- Wer kämpft online mit dem Lesen der Gruppenstimmung?
Alle halten bei der Übung ihre Kameras mit den Fingern oder einem Zettel zu und nehmen den Zettel bzw. Finger weg, wenn sie eine Frage bejahen. Dann schauen sich alle kurz um, ich fasse zusammen, wie viele Teilnehmende ich sehe und dann geht es zur nächsten Frage.
Wichtig: Nicht die Kamera-Funktion an und ausschalten lassen. Das dauert in der Regel zu lange und führt zu keiner Bewegung in den Körpern.
Es ist doppelt schön, wenn es mir gelingt, ein paar Fragen aus der Gruppe heraus zu bekommen, aber nach maximal 10 Fragen (besser 7) sollte Schluss sein. Sonst wird es redundant und es kann sich keiner mehr merken, wo sich viele oder wenige gemeldet haben
3) Kleingruppen
Kleingruppen sind eines der mächtigsten Tools der meisten Videokonferenzen. Menschen begegnen sich in geschützten Räumen, sehen einander und werden gesehen, teilen Unterschiede und Gemeinsamkeiten, erarbeiten etwas gemeinsam, können spontaner reden ohne sich zu melden, lernen einen kleinen Teil der Gruppe kennen und bauen zu ihm Vertrauen auf. Dieses Kleingruppen-Gefühl und -Vertrauen wird dann in die große Gruppe mitgenommen und im besten Fall auf die große Gruppe übertragen.
Der Nachteil: Da ich als Moderation meist nicht durch die Kleingruppen laufe, bekomme ich erstmal nichts von der Stimmung mit. Dagegen hilft aber so einiges:
- Ich lasse Kleingruppen in längeren Phasen eigentlich immer auf Whiteboards, in Präsentationen oder Etherpads mitschreiben, dann sehe ich, ob sie gut klarkommen.
- Ich frage kleine Berichte ab, wenn sie wiederkommen.
- Ich schaue genau hin, wie die Gesichter aussehen, wenn sie zurückkommen – oft sind sie am lächeln oder wirken gestresst, wenn die Zeit nicht gereicht hat – und spiegele das zurück in die Gruppe.
- Oder ich frage nach Daumen hoch oder runter, wenn das Bild für mich nicht klar ist.
Ich hoffe, all das hilft euch, mehr zu sehen, gibt euch Mut mehr zu spiegeln und schafft neue Ideen, wie Gruppen sich auch online als Gruppen erleben können. Euch allen viel Erfolg beim Ausprobieren!